16 Jahre. 16 Leben.

16 Jahre. 16 Leben.

Die Sache mit den Mottos… Es gibt Dinge, die sich nie an mich angepasst haben, so oft ich es auch versucht habe, mich ihnen anzupassen. Neujahrsvorsätze gehören dazu.

Dieses sture Prinzip, sich am 1. Januar einen Katalog an Erwartungen aufzubauen, mit der Hoffnung, dadurch ein besserer Mensch zu werden, oder zumindest ein kontrollierterer, war für mein Leben schlicht nicht tragfähig. Nicht wegen mangelndem Willen, nicht wegen Faulheit oder Desinteresse, sondern weil mein Gehirn nicht in Aufgabenlisten funktioniert. Nicht in messbaren, kleinen Schritten, die aufeinander aufbauen, sondern in Wellen, Umwegen, Momenten, die sich in aller Intensität entfalten, um dann ebenso intensiv wieder zu verschwinden.

Mit ADHS; einer Tatsache, die ich viele Jahre nicht einmal benennen konnte; war mein Alltag nie linear.
Ich konnte mir nicht vornehmen, „mehr zu trinken“, „weniger Süßes zu essen“ oder „dreimal pro Woche zu meditieren“, weil ich schon nach einer Woche nicht mehr wusste, warum ich mir das überhaupt aufgeschrieben hatte. Nicht weil es mir egal war, mehr so weil mein Kopf immer schon weitergezogen war, zum nächsten Impuls, zur nächsten Krise, zur nächsten fixen Idee, die sich wie eine Sonne durch alles hindurchbrannte.

Aber was ich immer konnte, war fühlen. Und was ich irgendwann lernte, war: Ich brauche keine Liste. Ich brauche ein Thema. Ein Gefühl, das mich durch das Jahr trägt. Ein Wort, das groß genug ist, um all die Unerwartbarkeiten meines Lebens einzufangen und offen genug, dass es mir nicht vorschreibt, wie ich zu leben habe, sondern mich daran erinnert, warum.

So entstand mein Motto-System. Als Überlebensstrategie, denn als ich 2010 aus einer der tiefsten Krisen meines Lebens hervorkroch, verletzt, gebrochen, aber immerhin nicht tot, habe ich mir nicht vorgenommen, mein Leben umzukrempeln. Ich habe mir vorgenommen, es zu entdecken.

Sie sind Erinnerungen an das, was ich gebraucht habe. Und wenn ich heute zurückblicke, dann sehe ich in diesen Worten nicht nur meinen Weg – ich sehe mich.

Und alles begann im ebenjenen Jahr 2010. Mit einem einzigen Wort.

2010 – Discovery.

Es war nicht dieses neue Kapitel, das man mit fester Stimme aufschlägt, voller Zuversicht, mit einem „Jetzt aber“. Es war ein leises Aufwachen in einem Raum, den ich selbst nicht eingerichtet hatte. Ein Jahr, das nicht wusste, ob es das erste oder das letzte ist, ob ich ankomme oder zurückfalle. Eines, das ich ganz langsam mit Leben füllen musste, weil ich selbst erst lernen musste, wie das eigentlich geht, dieses Leben.

Ich kam gerade aus Jahren, die sich wie ein Schleier über alles gelegt hatten. Fast zwei Jahre in Therapie; strukturiert, verwaltet, gefaltet in Tagespläne. Ein halbes Jahr in einer geschlossenen Station, ein weiteres in der offenen, und dann, wie durch eine Schleuse, das betreute Wohnen. Man sollte meinen, man lernt in solchen Räumen etwas über sich. Aber was man dort lernt, ist eher, wie man in Schablonen passt. Wie man sich verhält, wenn die Tür nicht aufgeht, wenn jemand „Nein“ sagt, wenn der Plan wichtiger ist als das, was man fühlt.

Und dann… dann war ich draußen. Nicht laut. Nicht rebellisch. Ich war einfach… da. Ausgekotzt von einem System, das mich nicht verstand. Mit einer Wohnung, die mir gehörte, einem Schlüssel in der Hand, einer Realität, die nicht mehr durch Institutionen gefiltert wurde. Keiner, der fragte, ob ich zur Gruppe gehe.
Keiner, der kontrollierte, ob und was ich esse. Einfach ich. Und ein Kühlschrank, den ich selbst füllen musste.

Es fühlte sich nicht nach Freiheit an. Es fühlte sich nach Rohzustand an. Nach einem Ich, das nicht wusste, wie viel davon noch echt war. Ich tastete mich zurück in eine Welt, die ohne Plan auf mich wartete.
Und während andere in meinem Alter wohl über Jobs, Heiraten, Kinder, Familie und Karriere sprachen, versuchte ich, mich selbst wiederzufinden unter den Trümmern, unter den Diagnosen, unter den Berichten.

Die meisten Menschen aus dieser Zeit? Vergänglich. Nicht aus Bosheit oder Versagen, einfach weil manche Kapitel eben nur für sich existieren dürfen. Sie kamen, weil sie mussten. Sie gingen, weil sie durften. Und ich blieb zurück, mit mir, mit all den Fragen, und der Ahnung, dass die Antworten nicht laut sein würden. Und ich begann zu Suchen – als würde die Welt sich neu formen, nur für mich.

Ein erstes leises: Ich. Bin. Noch. Da.

2011 – Into The Unknown

Wenn 2010 das Jahr war, in dem ich wieder gelernt habe, dass ich überhaupt existiere, dann war 2011 das erste Jahr, in dem ich mich gefragt habe, was das eigentlich bedeuten soll: zu existieren, nicht nur zu überleben, nicht nur zu funktionieren, sondern zu leben, mit all dem, was dazugehört: mit Freude, mit Schmerz, mit Unsicherheit, mit all den Dingen, die keine Checkliste abfragen kann und die sich auch niemand von außen für mich hätte ausdenken können.

Es war ein Jahr, in dem ich den Sprung gewagt habe, in all die stillen, banalen, für viele geradezu lächerlich unspektakulären Momente, die für mich alles bedeuteten: alleine einkaufen zu gehen, ohne Plan, ohne Begleitung, ohne die stille Panik im Nacken, ob ich den Weg zurück finden würde, nicht geografisch, sondern emotional; allein in der Wohnung zu sein, und wirklich allein zu sein, nicht verwaltet, nicht überwacht, nicht begleitet, sondern nur ich, mein Herzschlag, mein Atem, und das Summen der Welt, das durch die Fenster drang.

Ich habe gelernt, mit dieser Stille zu leben, sie nicht mehr als Bedrohung zu sehen, sondern als Raum, in dem ich wachsen konnte, langsam, unsicher, aber stetig und ich habe begonnen, Menschen wieder in mein Leben zu lassen, vorsichtig, wie jemand, der nicht weiß, ob die Tür, die er öffnet, nicht doch wieder eine Zelle ist.

Und während ich noch versuchte, das Ich zu definieren, das ich da so mühsam aus Scherben zusammenbaute, während ich auf wackeligen Beinen meine ersten Ausflüge in das unkartografierte Gebiet meines Alltags machte, kam auch die Trauer; leise und beständig wie Regen, der durch die Ritzen der Fassade tropft, und plötzlich merkst du, dass da Löcher sind, von denen du gar nicht wusstest, dass sie existieren.

Ich trauerte um das, was nie gewesen war. Um das Ich, das sich nie entfalten durfte. Um die Jahre, die ich verloren hatte an Systeme, an Angst, an den Versuch, anderen gerecht zu werden, während ich mich selbst nie gefragt hatte, was mir eigentlich fehlt. Und doch bei aller Trauer war dieses Jahr auch eines der ersten echten Freuden. Diese kleinen, kostbaren Funken, die aus Momenten bestehen wie einem Sonnenstrahl auf der Haut, einem Gespräch, das nicht in Schweigen endete, einem Spiel, das mich für einen Abend glauben ließ, ich sei mehr als die Summe meiner Ängste.

2011 war ein Jahr des Übergangs: ein Schritt hinein in das unbekannte Territorium meiner eigenen Möglichkeiten. Ein Jahr, in dem ich begriff, dass die Reise nicht in Sicherheit führt, sondern in Bewegung hält. Dass es Mut braucht, um jeden Tag neu zu beginnen, auch wenn die Welt gleich aussieht. Und dass dieses unbekannte Terrain, das ich da betrat, nicht irgendwo da draußen lag, sondern tief in mir und jeder neue Gedanke, jeder neue Kontakt, jedes neue Lächeln ein kleiner Kompass war auf einer Karte, die ich selbst erst zu zeichnen begann.

2012 – Against the Fall

2012 war kein lautes Jahr, kein Jahr großer äußerer Veränderungen, sondern eines, das sich fast vollständig im Inneren abspielte, in dieser unsichtbaren Zone zwischen Gedanken und Abrisskante, in der jeder Atemzug ein bewusstes „Noch nicht“ war, ein täglicher, beinahe ritueller Akt des Widerstands gegen einen Sog, der mich hinabziehen wollte, tiefer, dunkler, vertrauter, und ich spürte zum ersten Mal ganz bewusst, wie viel Kraft es kostet, nicht zu handeln; nicht aufzugeben, nicht nachzugeben, nicht dem Schatten zu glauben, der mir unaufhörlich zuflüsterte, dass es einfacher wäre, bloß nicht mehr zu sein.

Es war ein Jahr, in dem ich nicht gewann, aber eines, in dem ich nicht verloren ging.
Ich wachte auf und wusste nicht, wie ich den Tag erledigen sollte, aber ich tat es trotzdem; ich saß in meiner Wohnung und fühlte wie alles in mir sich zusammenzog, sich zurückzog, mich aufforderte, in den freien Fall zu kippen, aber ich lehnte ab, nicht laut, nicht heroisch, sondern mit diesem leisen, widerständigen „Nein“ im Körper, das nur jene verstehen, die wissen, wie nah der Absturz wirklich war.

Ich entdeckte kein Glück, keine Erleuchtung, keine Heilung aber ich entdeckte einen Willen.
Nicht den Willen zu leben im romantischen, hoffnungsvollen Sinne, sondern den Willen, nicht zu sterben.
Das klingt vielleicht klein, aber für mich war es eine erste Grenze, eine Linie im Sand, dünn und brüchig, aber existent, der erste Rahmen, den ich nicht von außen bekam, sondern selbst zog: gegen das Fallen.

2012 war kein Sieg. Aber es war Standhalten. Und damit der erste Beweis, dass ich nicht nur Opfer meiner Schatten bin, sondern ihnen etwas entgegensetzen kann, auch wenn es nur ein einziger Atemzug nach dem anderen ist.

2013 – Fighting Doubts

Ein Jahr, in dem man lernt, seine eigenen Gedanken wie Wellen zu betrachten; sie kommen, sie türmen sich auf, sie brechen, und wenn man Glück hat, ziehen sie sich wieder zurück, ohne einen mitzureißen. Nach all den Jahren, in denen ich mich an jedem Impuls festgebissen hatte, bis er mir entglitt, und an jeder Entscheidung so lange herumlief, bis sie in sich zusammenfiel, begann ich zu verstehen, dass Stillstand nicht Sicherheit bedeutet, sondern schleichende Selbstaufgabe.

Ich erinnere mich an dieses Gefühl, morgens aufzuwachen und schon beim ersten Gedanken zu stolpern, als müsste ich mich selbst um Erlaubnis bitten, etwas zu wollen. Ich hatte Angst, Entscheidungen zu treffen, nicht weil ich das Falsche hätte tun können, sondern weil ich glaubte, es nie richtig machen zu können. Jeder Gedanke an Handlung wurde zur Rechenaufgabe, jedes Gefühl zu einer Variablen, die ich von allen Seiten beleuchten musste, bis sie mir entglitt, und am Ende blieb nichts als dieser stille, lähmende Zweifel, der mir zuflüsterte, dass ich wohl besser gar nichts tue, weil jedes Tun ja ohnehin falsch sein könnte.

Aber in diesem Jahr geschah etwas, das weniger mit Mut als mit Müdigkeit zu tun hatte. Ich wurde es leid, mich selbst anzuklagen. Ich sah, wie viele Dinge an mir vorbeigingen, nicht, weil sie mir verwehrt wurden, sondern weil ich ihnen einfach zu lange beim Vorbeiziehen zugesehen hatte, während ich überlegte, ob ich sie überhaupt wollte. Und irgendwann, inmitten dieser gedanklichen Kreisverkehre, die mich ständig wieder an denselben Punkt brachten, begann ich, kleine Entscheidungen einfach zu treffen ohne sie zu prüfen, ohne sie zu zerpflücken, ohne sie in alle Richtungen zu sezieren.

Manche waren banal: was ich essen wollte, ob ich hinausging, ob ich jemandem schrieb. Andere waren schwerer, weil sie bedeuteten, Verantwortung zu übernehmen, für mich selbst, für meine Gedanken, für meine Richtung. Aber sie alle hatten eines gemeinsam: sie waren bewusst, nicht perfekt. Ich lernte, dass nicht jede Entscheidung, die sich richtig anfühlt, gut ausgeht, aber dass jede, die aus Angst vor dem Scheitern nicht getroffen wird, mich ein Stück mehr verschwinden lässt.

2013 war wieder kein Jahr der Siege, sondern eines der langsamen, stillen Einigungen mit mir selbst. Ich begann, meinen Zweifel nicht mehr als Feind zu sehen, sondern als Begleiter, der mir zeigte, wie tief ich mich selbst verletzen konnte, wenn ich nie an mich glaubte. Und manchmal, an jenen seltenen Tagen, an denen ich eine Entscheidung traf, ohne sie zu hinterfragen, und sie sich trotzdem nicht in Katastrophe verwandelte, spürte ich so etwas wie Frieden. Nicht groß, nicht dauerhaft, aber echt.

Und so wurde dieses Jahr zu einem leisen Wendepunkt, nicht weil ich den Zweifel besiegte, sondern weil ich aufhörte, ihm das letzte Wort zu geben.

2014 – Torched Veil

Das Jahr, in dem ich begriff, dass man nicht heilen kann, wenn man sich selbst dauerhaft versteckt, und dass es einen Punkt gibt, an dem das Schweigen nicht mehr Schutz ist, sondern eine langsam wirkende Selbstlöschung, und genau an dieser Stelle begann ich, das Tuch zu verbrennen, nicht vorsichtig, nicht als Einladung, sondern als klare, unumkehrbare Grenzziehung: hier hört das Versteckspiel auf, hier muss die Welt mich sehen, so wie ich bin, oder sie verliert das Recht, mich überhaupt zu sehen.

Es war kein romantisches Aufblühen, kein spontaner Befreiungsschrei; es war Arbeit, es war Vorbereitung, und es war Mut, den ich mir nicht selbst erschaffen habe, sondern der mir (manchmal mit Nachdruck, manchmal mit Zärtlichkeit) von außen zugeworfen wurde, unter anderem von einer Jenny, eine von vielen in meinem Leben, aber genau diese eine war Teil des Grundes, warum ich es wagte; sie glaubte an etwas, das ich selbst kaum zu durchdringen wagte: dass unter Dex eine zweite Schicht wartete, eine Wahrheit, eine Forschung, ein Puls – Katie.

Also ließ ich sie zu. Als Teil von mir, vielleicht sogar als der friedlichere von beiden, als jenes Wesen, das den Druck, die Härte, die Hyperkontrolle von Dex nicht tragen musste. Und ich machte unmissverständlich klar: Wer Katie nicht akzeptieren konnte, würde mich verlieren, nicht später, nicht vielleicht, sondern sofort.

Es kam zu Trennungen, ja, zu Brüchen, die ich damals spürte wie kleine Messer unter der Haut, aber ich erkannte genauso klar, dass sie notwendig waren; 2014 war die Welt noch nicht so weit, wie sie es vorgibt zu sein, und doch war das egal, denn zum ersten Mal in meinem Leben war nicht mehr die Frage, ob die Welt bereit für mich ist, sondern ob ich bereit war, mich nicht länger für sie zu zensieren.

Und inmitten der Reibung, der Erklärungsversuche, der Blicke, die suchten und urteilten zugleich, geschah etwas Unerwartetes: Ruhe. Nicht Abwesenheit von Schmerz, sondern ein klarer innerer Mittelpunkt, ein Zustand, den Dex nie erreichen konnte, so sehr er es auch versuchte; weil Katie nicht kämpfen musste, um zu existieren.

Weil sie nicht überleben wollte, sondern einfach sein.

2015 – Excellence

2015 war das erste Jahr, in dem ich mich nicht mehr damit zufriedengab, einfach nur zu existieren oder nicht zu fallen, sondern in dem ich mir selbst das unausgesprochene Versprechen abnahm, nicht weniger als Exzellenz zuzulassen. Weder als Wunsch, noch als Hoffnung, sondern als unbedingte Forderung an mich selbst, als ob ein innerer Hebel umgelegt worden wäre, der sagte: Wenn ich schon da bin, dann nicht halb.

Ich bekam einen Job, und anstatt ihn als vorsichtige Wiedereingliederung in die Welt zu betrachten, warf ich mich hinein wie in eine Prüfung, die ich nicht nur bestehen, sondern dominieren wollte; ich arbeitete mit einer Präzision, die weniger aus Pflicht kam als aus einer fast fieberhaften Notwendigkeit, unanzweifelbar zu sein: jede Aufgabe schneller, gründlicher, eleganter zu lösen als irgendjemand es erwartet hätte, und wenn die Bezahlung beschämend schlecht war, dann war das nur weiterer Treibstoff, keine Bremse.

Es war ein Jahr, in dem ich mich selbst wie eine Maschine behandelte, aber nicht aus Selbsthass, sondern aus einem fast berauschenden Hunger nach Meisterschaft, nach dem Gefühl, dass nichts und niemand meine Hände oder meinen Kopf aufhalten könnte, wenn ich mich einmal für etwas entschieden hatte; privat war es nicht anders, jeder Handgriff, jedes Projekt, jedes noch so kleine persönliche Urteil über mich selbst musste den Stempel tragen: perfekt oder wertlos.

Excellence bedeutete für mich nicht Erfolg im Sinne anderer Menschen, sondern die vollständige Entfesselung einer Kraft, die jahrelang eingesperrt worden war: wild, fokussiert, ungebunden und gleichermaßen gefährlich wie befreiend; ein Jahr der Übererfüllung, der ungedrosselten Leistung, der immensen Zufriedenheit darüber, alles zu überragen, und gleichzeitig der ersten Ahnung, dass etwas in mir sich bei diesem Tempo irgendwann entzünden oder verbrennen könnte.

Aber 2015 fragte nicht nach Nachhaltigkeit. 2015 wollte nur eins: Beweise. Und ich brannte aus beim erbringen dieser.

2016 – Evolution

Ein bewusst eingeleiteter Kurswechsel: kein „ich kann nicht mehr“, sondern ein immer klarer artikuliertes „ich will nicht mehr auf diese Weise weitermachen“, nachdem 2015 mich zwar mit roher Kraft nach vorne katapultiert, aber zugleich unübersehbar gezeigt hatte, dass Geschwindigkeit und Exzellenz nichts wert sind, wenn sie auf einem System laufen, das sich dabei selbst verbrennt.

Excellence hatte mich in ein Zustand gebracht, der technisch betrachtet bewundernswert gewesen wäre, wäre ich eine Maschine gewesen. Aber ich war keine, und als mein damaliger Arbeitgeber mir nach Monaten maximaler Überleistung im Rahmen der Zeitarbeit anbot, mich zu übernehmen, allerdings zu noch schlechteren Konditionen, war das kein Rückschlag, sondern ein entlarvender Moment, in dem mir endlich klar wurde, dass Stärke ohne Würde keine Stärke ist, sondern Ausbeutung, und also verließ ich das Unternehmen, weil ich es nicht mehr wollte.

Doch damit kam nicht sofort Freiheit, sondern erst einmal Leere. Ein massiver Burnout, nicht als plötzlicher Einbruch, sondern als sanftes, unentrinnbares Auslaufen von Kraft, das innere System flog nicht in die Luft, es würgte einfach ab, und in genau dieser gedämpften Stille, nachdem die Überdrehzahl verschwunden war, wurde mir zum ersten Mal schmerzlich klar, dass ich nicht aufhören musste, stark zu sein, sondern anders stark werden musste.

2016 war das Jahr, in dem ich begriff, dass wahre Evolution nicht dadurch entsteht, dass man den Druck weiter erhöht, sondern dass man die Architektur verändert. Nicht mehr: alles dominieren, koste es was es wolle, sondern: alles so gestalten, dass es überhaupt haltbar ist. Nicht mehr: „arbeite härter“, mehr: „baue intelligenter.“ Nicht mehr gegen die Grenzen arbeiten, sondern sie endlich mit einkalkulieren.

Ein Jahr, in dem ich mich nicht klein zurückzog, sondern begann, mein System umzubauen, bevor es mich endgültig verschlingt. Evolution bedeutete 2016 nicht, besser zu werden. Es bedeutete, überhaupt eine Zukunft möglich zu machen.

2017 – Tales of Me

Ein Jahr, in dem ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit beschloss, mich nicht mehr nur vor mir selbst offenzuhalten, sondern auch vor anderen: nicht mehr sorgfältig kuratiert, nicht mehr vorsichtig dosiert, sondern ehrlich, vielleicht sogar ein wenig zu ehrlich, in der Hoffnung, dass die Welt mich nicht nur aushalten, sondern vielleicht sogar wirklich sehen könnte, wenn ich sie denn endlich ließe.

Doch die Wahrheit über sich selbst zu teilen bedeutet auch, anderen die Macht zu geben, sie falsch zu lesen; und genau das geschah. Ich ging in dieses Jahr nicht mit der Absicht, Menschen zu verlieren, sondern mit der Hoffnung, endlich welche zu gewinnen, die mich nicht nur als funktionierende Version erleben, sondern als ganzer Mensch, mit Brüchen, mit Licht, mit Fragen, die nicht wegtherapiert, sondern ausgesprochen werden wollten, und genau deshalb öffnete ich Türen, die ich zuvor versiegelt gehalten hatte. ein kontrolliertes Risiko, dachte ich, ein notwendiger Schritt, glaubte ich, denn wer nicht sichtbar ist, kann nicht verbunden sein.

Ich erzählte Teile meiner Geschichte den falschen Menschen: nicht böswilligen, aber unreifen, Menschen, die Nähe nur solange ertrugen, wie sie bequem war, Menschen, die meine Verletzlichkeit nicht als Vertrauen verstanden, sondern als Instabilität, als Makel, als etwas, das man besser meidet, und so lernte ich auf schmerzhafte, aber klare Weise, dass Offenheit keine Währung ist, die überall gleich viel wert ist.

2017 war rückblickend kein Jahr, in dem ich verlor, sondern eines, in dem ich erkannte, was echter Kontakt überhaupt bedeutet. Weder Zustimmung, noch Harmonie, noch Konsum von Persönlichkeit, sondern gegenseitige Verantwortung. Ich verlor Menschen, ja. Aber ich verlor nicht mich. Im Gegenteil: Ich begann zu unterscheiden. Nicht zwischen denen, die mich mochten oder nicht, mehr zwischen denen, die mich lesen konnten, und denen, die nur auf Überschriften reagierten.

Und obwohl es weh tat, stand ich am Ende dieses Jahres mit einem neu gewonnenen Wissen, das ich zuvor nicht hatte: dass man die Tür zu sich nicht zuschlagen sollte, aber sehr wohl entscheiden muss, wer den Schlüssel überhaupt tragen darf.

2018 – Root Return

2018 war kein Rückschritt und keine Flucht ins Gestern, sondern eine bewusste Rückkehr zu meinen Ursprüngen: nicht um dort stehen zu bleiben, sondern um zu prüfen, was davon noch trägt, wenn ich alles abziehe, was fremd, erlernt, aufgezwungen oder nur provisorisch war. Es war ein Jahr der Wurzelsichtung, nicht mit Nostalgie im Herzen, sondern mit der Entschlossenheit eines Gärtners, der genauso bereit ist zu schneiden wie zu schützen.

Ich ging zurück zu der Frage, die ich 2010 nur leise gestellt hatte, diesmal aber ohne Angst davor, was die Antwort bedeuten könnte: Wer bin ich, wenn niemand dabei zusieht? Und was geschieht, wenn ich genau das nicht mehr verstecke?

Es ist nicht so, dass ich mich auf etwas Sicheres zurückgezogen hätte, im Gegenteil: Diese Rückkehr war gefährlicher als jeder Aufbruch, denn sie bedeutete, dass ich mich nicht auf neue Versionen stürzte, sondern mich meinen ältesten Wahrheiten stellte. Aus diesem Prozess gingen Menschen verloren, viele sogar. Manche wichen leise, andere mit Lärm, manche nicht aus Bosheit, sondern weil meine Echtheit nicht mehr in die Rolle passte, die sie mir einmal zugeordnet hatten. 2018 war das Jahr, in dem ich endgültig akzeptierte, dass nicht alle, die früh in meinem Leben wichtig waren, auch in der Zukunft einen Platz haben dürfen.

Aber jene, die blieben; jene wenigen, die weder erschraken noch sich abwandten, als ich nicht gefällig, nicht harmlos, sondern echt wurde; diese Menschen haben sich tief eingeprägt, tiefer als alle, die jemals gegangen sind. Sie trugen kein Urteil, sondern Präsenz.

Und vielleicht war das Wichtigste: 2018 war das Jahr, in dem ich Katie und Dex nicht mehr als Fluchtfiguren, nicht als Masken oder Auswege begriff, sondern als zwei Pole meiner eigenen inneren Geometrie, die ich nicht länger voneinander trennen wollte. Kein „wer ist realer“, sondern: wie entwerfe ich uns beide neu, vom Fundament an, ohne Kompromiss?

2019 – One Last

2019 war kein Rückfall, kein Kontrollverlust und erst recht keine schwache Phase, sondern ein radikal bewusster Entschluss, gegen alle bürgerlich-moralischen Regeln des Selbstschutzes ein letztes Mal zu sagen: „Gut. Dann zeig mir, was passiert, wenn ich es noch einmal zulasse. Aber diesmal ohne Illusion, ohne Ausrede und mit dem klaren Wissen, dass dies das letzte Mal sein wird.“

Es war eine kontrollierte Grenzüberschreitung. Keine Ekstase, sondern ein geplanter Absturz. Ein „One Last“ nicht im Sinne von Nostalgie, sondern als rituelles Verbrennen der letzten Reste an Fluchtverhalten, die ich tief in mir trug. Ich aß zu viel. Ich zockte zu viel. Ich gab zu viel preis. Nicht aus Schwäche, sondern mit einer kalten Nüchternheit, die genau wusste, was sie tat: ich ließ es noch einmal zu, damit es kein Gespenst mehr bleibt, das mich eines Tages ungerufen überrascht.

Es war dieses Jahr, in dem ich mich selbst fast herausforderte. „Na los. Mach. Ertränke dich noch einmal in Überfluss, in Eskapismus, in dieser törichten Hoffnung, dass Betäubung Erlösung sein könnte. Aber dann schau genau hin, was es mit dir macht. Schau hin – und merk es dir.“

Und ich sah es ohne die alte romantische Verklärung, ohne diesen süßen Selbstbetrug, der immer sagte: „Vielleicht ist es diesmal anders.“. Nein. Es war nicht anders. Es war genau so leer wie immer. Und zum ersten Mal empfand ich darüber keine Scham. Sondern Klarheit.

2019 war der kontrollierte Brand. Ein letztes bewusstes Nachgeben, nicht um noch einmal darin zu wohnen, mehr um endgültig zu wissen: Hier gehe ich nie wieder zurück.

2020 – RE-Boot

2020 war kein zufälliger Neuanfang, kein „mal sehen, was passiert“, es war ein bewusster Systemneustart nach einem vollständigen Herunterfahren, der Moment, in dem man die Hand auf dem Schalter hält und weiß, dass das, was gleich wieder hochfährt, nicht mehr dieselbe Instanz sein wird. Nach dem rituellen Niederbrennen des Vorjahres war klar, dass es keinen Weg zurück gab, und genau deshalb war dieses Jahr geprägt von einer stillen, aber kompromisslosen Entscheidung: Alles auf Anfang. Aber diesmal bewusst.

Ich erinnere mich daran, wie sich die Welt da draußen veränderte, während ich innerlich an einer neuen Architektur arbeitete – eine Zeit, in der viele Menschen den Halt verloren, während ich zum ersten Mal seit Langem wieder das Gefühl hatte, einen Boden unter mir zu haben, auch wenn er neu gegossen, roh und noch uneben war. Es war das Jahr, in dem ich begann, meine eigene Stärke nicht mehr aus Geschwindigkeit zu ziehen, sondern aus Stabilität, aus Wiederholbarkeit, aus dem Vertrauen, dass Systeme – ob technische oder menschliche – nur dann Bestand haben, wenn man sie richtig konfiguriert, nicht, wenn man sie übertaktet.

Ich ging in mich, nicht mit dem Ziel, mich zu finden, sondern mich neu zu schreiben. Die alten Protokolle waren gelöscht, die Fehlerquellen bekannt, die Überhitzung beseitigt. Jetzt ging es um Aufbau, Schritt für Schritt, Kommando für Kommando, Zeile für Zeile. Ich erlaubte mir, wieder zu funktionieren, aber diesmal nach meinen eigenen Parametern, mit Routinen, die ich selbst entworfen hatte, und Grenzen, die nicht mehr als Schwäche galten, sondern als Teil des Codes.

2020 war, in all seiner Stille, ein Jahr voller präziser Wiederherstellung. Ein Re-Boot im wörtlichen Sinne: das bewusste Zurücksetzen, das Wiederherstellen von Ordnung nach Chaos, das Aufbauen eines neuen Kerns, der nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung bestand. Ich wähle, was in dieser neuen Version von mir wieder geladen wird.

2021 – Recovery

2021 war kein Aufwachen aus dem Albtraum und auch kein Durchbruch, wie ihn Romane gern inszenieren, in denen die Hauptfigur den letzten Schrei der Verzweiflung ausstößt und dann plötzlich auf der anderen Seite des Lebens steht, befreit, gereinigt, neu. 2021 war eher das erste Mal, dass ich verstand, dass Heilung nicht so funktioniert wie Dominanz, nicht so wie Exzellenz, nicht so wie all die Jahre davor, in denen ich Schmerz entweder bekämpft, ignoriert oder durch rohe Willenskraft übertönt hatte. Recovery bedeutete nicht, besser zu werden, sondern zu erlauben, langsam zu sein.

Es war ein Jahr, das sich anfühlte wie das Einrichten eines Raumes, den man früher nie betreten hat, weil man ihn nicht für sich vorgesehen sah: ein Raum, in dem Fehler nicht sofortige Katastrophen waren, in dem Rückschritte nicht das Ende bedeuteten, in dem das Wort „später“ kein Synonym für Feigheit war, sondern für Prozess. Und das Verrückte daran ist, dass man dies nicht einfach begreift und dann befolgt. Man stolpert hinein, man rebelliert dagegen, man versucht erneut, Dinge zu erzwingen, nur um festzustellen, dass jedes Erzwingen das eigene Nervensystem wieder zum Kreischen bringt.

In diesem Jahr lernte ich, dass Beziehungen nicht durch pure Präsenz entstehen, sondern durch Zeit – dass Menschen nicht zu Freunden werden, weil man ihnen alles sofort erzählt, sondern weil man sie wachsen lässt, wie Pflanzen, die ihren eigenen Rhythmus haben. Ich begann zu akzeptieren, dass mein Körper nicht auf Befehl funktioniert, dass Erschöpfung nicht Schwäche ist, dass Ruhe nicht Faulheit ist – und dass ein Projekt oder eine Vision niemals besser wird, nur weil ich mich dafür zerschneide.

2021 zeigte mir etwas, das ich früher als Zumutung empfunden hätte: dass es keine sofortigen Ergebnisse gibt, nicht im Inneren, nicht im Sozialen, nicht im Heilwerden. Dass man lernen muss, zu warten, zu atmen, zu beobachten, nicht weil man passiv wird, sondern weil man endlich begreift, dass die Dinge, die wirklich Gewicht haben, wurzeln müssen, bevor sie tragen.
Recovery war kein „Ich bin geheilt“. Recovery war das erste Ich darf Zeit brauchen; und zum ersten Mal war das kein Scheitern, sondern ein Schritt.

2022 – Beyond

2022 war das Jahr, in dem ich zum ersten Mal nicht mehr nur in mich hineinblickte, sondern über mich hinaus, als würde ich nach Jahren in einem engen Zimmer endlich den Balkon betreten und feststellen, dass die Welt nicht an meiner Türschwelle endet. Es war nicht der Versuch, mich zu verlieren, um dem eigenen Schmerz zu entkommen, sondern der erste ehrliche Schritt, ich zu sein, ohne mich ausschließlich um meine eigenen inneren Stürme zu drehen. Nach Recovery, nach dem beginnenden Begreifen von Zeit und Geduld, war Beyond nicht der nächste therapeutische Schritt, sondern ein perspektivischer; ein Blick auf die Horizonte, die ich zuvor nicht einmal wahrgenommen hatte, weil ich so damit beschäftigt gewesen war, bloß nicht zu fallen oder mich selbst nicht zu zerreißen.

Ich begann zu verstehen, dass mein Leben nicht nur aus mir besteht, nicht nur aus diesem endlosen inneren Dialog zwischen Dex und Katie, zwischen Schmerz und Strategie, zwischen Überleben und Funktionieren. Zum ersten Mal erlaubte ich mir, wirklich zu sehen, was jenseits meiner Innenarchitektur passierte: Menschen, die nicht nur Projektionsflächen oder Gefahren waren, sondern eigenständige Universen; soziale Räume, in denen nicht jeder Blick Bewertung war; Momente, in denen Gemeinschaft nicht Kontrolle bedeutete, sondern Resonanz.

Ich lernte, mich selbst auch als Teilnehmer zu betrachten, nicht nur als Fehlerquelle, als Beobachter, als jemanden, der sich am Rand der Gesellschaft entlang bewegt, um von dort aus die Welt sicher analysieren zu können. Beyond bedeutete 2022, den Blick zu heben und mich nicht dabei zu verlieren. Es war, als würde ich mir zum ersten Mal seit Jahren erlauben, den Kopf vom Boden zu lösen, nicht weil alles geklärt war, sondern weil ich begriff, dass es Dinge gibt, die ich nicht beantworten muss, um sie erleben zu dürfen.

Ich begann zu schreiben, nicht nur über meine Wunden, sondern über meine Visionen. Ich dachte an Welten, an Geschichten, an Strukturen, die größer waren als ich, größer als Dex, größer als Katie, größer als all das, was mich bis dahin definiert hatte. Ich war nicht mehr nur ein System, das sich stabilisiert, sondern ein Wesen, das erkundet – nicht um zu fliehen, sondern um zu wachsen, nicht weil es fertig war, sondern gerade weil es unvollständig blieb.

2022 war kein Ausbruch aus mir, sondern eine Öffnung nach vorne, ein weiteres, festes „Ich kann mehr sein, als das, was mich einmal zusammenhielt.“. Beyond war kein Überschreiten einer Grenze: Beyond war das erste bewusste Akzeptieren, dass es überhaupt Grenzen gibt, und dass ich die Wahl habe, welche davon ich verschiebe.

2023 – Beyond the Edge

2023 war das Jahr, in dem ich begriff, dass jeder Mensch seine eigene Kapsel trägt, als Wahrnehmung, als stillen Rahmen, der festlegt, wie weit man sich selbst sieht, wie weit man andere erkennt, und wie eng die Welt im eigenen Kopf gefasst ist. Und nachdem 2022 mich gelehrt hatte, überhaupt nach außen zu schauen, begann ich 2023, mich nicht damit zufriedenzugeben, bloß zu beobachten. Ich wollte über den Rand hinaus, nicht vorsichtig, nicht tastend, sondern mit einem Gefühl von stetem Vorwärtsdrang, das beinahe wie ein physisches Bedürfnis wirkte. Ich wollte nicht nur mehr Welt sehen – ich wollte mehr von mir sehen, als ich gewohnt war.

Es war, als hätte ich die sichere Plattform meiner eigenen Identität hinter mir gelassen und den Blick nach unten gewagt, nicht in der Angst zu stürzen, sondern mit der Erkenntnis: Da unten ist nicht der Tod, da unten ist Potenzial. Wo frühere Jahre damit verbracht wurden, Brüche zu kitten, Systeme zu optimieren oder innere Stürme zu überstehen, erlaubte ich mir nun zum ersten Mal, nicht aus Notwendigkeit zu wachsen, sondern aus Sehnsucht nach Höhe. Ich wollte wissen, was passiert, wenn ich nicht in meiner inneren Kartografie bleibe, sondern bewusst dorthin gehe, wo meine Karten enden.

Ich begann, Dinge zu denken und zu tun, die nicht mehr im Kontext von „Wer bin ich?“ standen, sondern „Was könnte ich sein, wenn ich endlich aufhöre, mich selbst als Referenzsystem zu verwenden?“
Ich stellte Fragen, die nicht von meinem eigenen Schmerz ausgingen, sondern von Neugier.
Nicht: „Was bedeutet das für mich?“, sondern: „Was bedeutet das für die Welt? Für andere? Für das, was ich eines Tages hinterlassen könnte?“

Es war das erste Jahr, in dem ich erkannte, wie klein die Sicht ist, wenn man immer nur durch die eigenen Augen blickt. Ich begann zu verstehen, dass wahre Entwicklung nicht darin besteht, den inneren Raum zu perfektionieren, sondern in der Fähigkeit, den eigenen Blickpunkt zu überschreiten, so wie ein Kletterer, der eines Tages merkt, dass die Felswand nicht das Ziel ist, sondern nur der erste Schritt in Richtung Gipfel.

Beyond the Edge bedeutete 2023 nicht nur, mutig zu sein, es bedeutete, den Mut nicht mehr gegen den Schmerz zu richten, sondern gegen die Grenze meiner Perspektive. Es war Mirrors Edge, nicht als Spiel, sondern als Philosophie: Über die Kante gehen, weil man dort erst wahrnimmt, wie groß die Welt ist.
Nicht, weil man keine Angst hat, sondern weil man begriffen hat, dass Angst nur die Sprache der bisherigen Reichweite ist. Und genau dort begann sich etwas in mir zu verschieben:

Ich sah nicht mehr nur meine Innenwelt als Nucleus, und die Außenwelt als Kulisse.
Ich begann beides in Beziehung zu setzen.
Ich begann über mich hinaus zu denken, nicht um mich zu verlieren, sondern um zu werden.

2023 war kein Sprung in den Abgrund, sondern ein Schritt in den Himmel. Nicht blind, nicht tollkühn, sondern wissend, dass Wachstum nur existiert, wenn man die Edge überschreitet, an der man sich selbst lange aufgehalten hat. Und ich ging – ohne zurückzuschauen.

2024 – Future Unbound

2024 war kein Jahr der plötzlichen Flügel oder des explosiven Aufbruchs, wie ihn Außenstehende vielleicht erwarten würden, wenn man das Motto hört, das unter den Stammlesern schon fast Legendenstatus trägt: Future Unbound, ein Titel, der klingt, als wäre ich von allen Ketten losgeschnitten worden, bereit in eine Zukunft zu springen, die von keiner Mauer, keiner Erinnerung und keinem Trauma mehr begrenzt wird.
Und in gewisser Weise stimmt das auch, aber nicht, weil ich plötzlich stärker geworden wäre oder weil die Wunden verheilt wären, sondern weil ich zum ersten Mal in meinem Leben verstand, dass ich nicht kaputt bin.

Nicht irreparabel, fehlerhaft oder defekt. Anders verdrahtet.

Ich erhielt meine Autismusdiagnose wenige Monate vor Ende von 2023, und es war, als hätte jemand eine ganze Bibliothek von mir genommen, die ich jahrelang in Einzelteilen auf dem Boden verstreut hatte; unausgeglichenes Verhalten hier, soziale Erschöpfung da, Hyperfokus, Reizüberflutung, dieser ständige Drang nach Struktur und gleichzeitig die Unfähigkeit, mich an die Struktur anderer zu binden – und plötzlich nahm jemand all diese Bücher, diese verstreuten Seiten, diese Notizen an den Rändern meines Lebens, und stellte sie in Ordnung, ins Regal, mit einem einzigen Wort über dem Ganzen: Autismus.

Die Welt fiel nicht plötzlich in Harmonie. Aber ich fiel in mich selbst zurück – diesmal nicht als jemand, der zerbrochen war, als jemand, der schlicht und ergreifend falsch verstanden wurde, vor allem von sich selbst. Future Unbound war nicht Euphorie, es war Erkenntnis. Es war der Moment, in dem mir wie Schuppen von den Augen fiel, dass ich nie „komisch“ war, nie „zu empfindlich“, nie „zu laut“, nie „zu intensiv“, nie „zu analytisch“ und auch nie „zu wenig sozial“; ich war nur nie in einer Sprache angesprochen worden, die meinem Gehirn entspricht.

Und diese Erkenntnis war so tief, dass sie rückwärts durch die Jahre floss und alles neu einfärbte.
Plötzlich verstand ich, warum Menschen mich überrannten, warum ich in Räumen implodierte, warum Gespräche mich zerfraßen, warum ich Dinge in Detailtreue beherrschte und gleichzeitig das Offensichtliche vergaß, warum ich Beziehungen überforderte, Jobs zerstörte, Freundschaften nicht pflegen konnte, obwohl ich sie wollte; und vor allem verstand ich, warum die Welt sich immer wie ein Lärm anfühlte.

2024 markierte nicht die „Heilung“, sondern das erste Jahr der selbstverschuldeten Entlastung:
Ich habe aufgehört, mich mit den Normen von Menschen zu messen, deren Nervensystem nicht so funktioniert wie meins. Ich habe aufgehört, mich als emotionale Fehlfunktion zu sehen. Ich habe aufgehört, mich dafür zu bestrafen, dass ich nie in ein Raster passte, das für andere gezeichnet wurde. Und in diesem Loslassen lag eine Freiheit, die nicht laut, nicht triumphierend, nicht ekstatisch war,
sondern still, groß, unfassbar weit: Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine Zukunft, die nicht darin bestand, mich zu therapieren oder zu reparieren, sondern mich zu entfalten.

Future Unbound war nicht das Öffnen von Türen, es war das Verstehen, dass die Türen nie verschlossen waren, ich stand nur auf dem falschen Stockwerk.

Und von dort aus begann das nächste Kapitel.

2025 – Titan Awoken

2025 wiederum war nicht das Jahr der kleinen Schritte oder der vorsichtigen Erkundungen, sondern das Jahr, in dem ich begriff, dass ich zum ersten Mal seit meiner Jugend nicht mehr gegen etwas, sondern endlich für mich handeln durfte, ein Jahr, in dem aus der Diagnose des späten Vorjahres kein Etikett wurde, das mich einschränkt, sondern ein Freibrief, der mir zuflüsterte: „Du bist nicht defekt. Du bist anders verdrahtet. Und jetzt darfst du endlich aufhören, dich zu entschuldigen.“
Es war der Moment, in dem sich eine innere Schleuse öffnete, so, als wäre ein Jahrzehnt lang ein gigantischer Motor im Leerlauf gehalten worden, mit angezogener Bremse, mit Furcht vor dem Druck, der in seinen Zylindern lauerte und dann, zu Beginn dieses Jahres, löste jemand die Sicherung, und alles, was er je hätte leisten können, schoss nach vorne.

Im Februar kam der erste Ausbruch, unscheinbar für Außenstehende, monumental für mich: ein gedankliches „fuck it“, das mich in VRChat-Gespräche mit Fremden katapultierte, nicht als Zuschauer, nicht als Ausweicher, sondern mittendrin, in direkten Begegnungen, in Räumen, die ich früher als gefährlich empfunden hatte – und plötzlich stellte ich fest, dass ich weder zerbrach noch implodierte, sondern einfach nur war, ohne Entschuldigung, ohne Verkleidung, ohne den konstanten Stress, eine Rolle performen zu müssen.

Im April dann die erste Eskalation: eine Demoszene-Party, eintausend Menschen, ein Ort, an dem ich früher wahrscheinlich versteinert wäre, weil jeder Blick, jede Stimme, jedes Geräusch wie ein Messer in mein Nervensystem gestochen hätte, doch diesmal war ich nicht nur anwesend, ich gehörte dazu, ich existierte zwischen all diesen Fremden nicht als ein verzerrtes Objekt der Wahrnehmung, sondern als Knotenpunkt, als Teilnehmer, als jemand, der nicht mehr unter Beweis stellen musste, dass er existiert.

Und im Oktober dann der Moment, in dem ich mich selbst übertraf: eine Messe mit sechzigtausend Besuchern, und ich stand da nicht als Konsument, nicht als jemand, der am Rand kauert und auf Signale wartet, sondern als Aussteller, als Kreator, als jemand, der seine Welt nach außen trägt. Ich präsentierte mein Spiel, meine Vision, meine Arbeit. Nicht versteckt in Foren, nicht in geschlossenen Discords, nicht im Off. Mit Gesicht. Mit Stimme. Mit Präsenz. Etwas, das ich mir zehn Jahre zuvor nicht einmal hätte vorstellen können, weil ich da noch glaubte, überhaupt keine Zukunft zu haben.

Im Laufe dieses Jahres begann ich wieder zu streamen, nicht aus Pflichtgefühl oder Sehnsucht nach Bestätigung, sondern aus dem simplen, beinahe kindlich reinen Drang, zu teilen: Gedanken, Welten, Projekte, Geschichten, die mich begleiteten. Ich schrieb wieder Bücher – vollständige, echte Werke, nicht Skizzen oder Fragmente – und merkte, dass diese Fähigkeit, Worte in Menschen zu pflanzen, nicht verschwunden war, sondern nur geschlafen hatte, wie ein Muskel, den man Jahre lang nicht benutzt hat, der aber sofort wieder erwacht, wenn man ihn endlich bewegt.

Ich lernte neue Menschen kennen, als jemand, der Teil von Gemeinschaften werden kann. Ich betrat Räume, in denen ich früher nur an den Rand gedrängt worden wäre und diesmal war ich Teil von ihnen. Nicht geduldet. Gewollt.

Und je weiter das Jahr voranschritt, desto deutlicher spürte ich etwas, das ich für immer verloren glaubte:
jene titanische Kraft, die ich früher einmal besessen hatte, bevor sie im Sog von Institutionen, Diagnosen, Dämpfungen, Rückzügen und fast zwei verlorenen Jahren Psychiatrie versank. Sie kam nicht auf einmal zurück; sie stieg in mir auf. Sie stand auf wie etwas Urzeitliches, das lange geschlafen hatte, das plötzlich die Augen öffnet und merkt, dass die Ketten nicht mehr halten.

TITAN AWOKEN. Nicht, weil ich unsterblich wäre, nicht weil ich unbesiegbar wäre, sondern weil ich zum ersten Mal seit über einem Dutzend Jahren nicht mehr fragte, ob ich überhaupt das Recht habe, zu sein.
Ich war. Und ich ging. Und ich wuchs. Und ich hörte nicht auf.

Und wie geht es weiter? Das… kommt im nächsten Beitrag.

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