RE:Origins – Kapitel 3

RE:Origins – Kapitel 3

/// Neo Tokyo

// Ort: Tokyo-Delta – Unterebene 12, Randzone
// Uhrzeit: 02:19 JST
// Stromversorgung: partiell / illegal abgezapft
// Außentemperatur: 4 °C
// Innentemperatur: 8 – 10 °C
// Luftfeuchtigkeit: 86 %

Sie hatte den Arm unter einem Müllcontainer gefunden. Zwischen einem durchgerosteten Klappbett und einem ausgeschlachteten Lieferbot. Der Scanner am Handgelenk blinkte zweimal rot – Radiation Residuals (veraltet) -, aber Samira ignorierte das. Sie hatte gelernt, zu nehmen, was man ihr ließ. Und was niemand wollte, war oft am wertvollsten.

Der Cyberarm war alt. Zweite oder dritte Serie, vermutlich aus einem Versorgungslager. Die Oberfläche war verbrannt, eine der internen Aktuatorstreben war durchgeschmolzen. Aber die Struktur war intakt. Das bedeutete: brauchbar.

Sie schleppte ihn in ihr „Versteck“ – einen notdürftig abgedichteten Wartungsschacht unterhalb eines stillgelegten Transitpunkts. Die Wände waren feucht. Die Decke bröckelte. Die Isolation bestand aus einer dünnen Plastikplane mit halbverblasstem Firmenlogo.

Aber hier… Hier funktionierte ihr Terminal. Hier war ihre Welt.

Samira ließ sich auf den Boden sinken, den Arm vor sich, den Schraubenschlüssel in der linken, das Mikroskalpell im Mundwinkel.
Das Display an der Wand flackerte, gespeist von einem gestohlenen Batteriesystem, das sie alle zwei Tage neu verkabeln musste. Sie arbeitete schweigend. Nicht aus Konzentration – sondern weil niemand da war, dem sie etwas sagen konnte.

Da! Kabelschacht 2 freigelegt. Nanofasern korrodiert, aber rekombinierbar. Handfläche 4 mm zu breit. Designstandard ist aber nicht mehr aktuell. Ein bisschen Anpassung nötig. Sensorarray instabil – aber durch Skininterface kompensierbar.

Ihre Finger bewegten sich schnell, präzise, trotz der Kälte.
Die Handschuhe waren zu dünn, aber besser als nichts.
Sie hatte früher davon geträumt, einmal für große Namen zu arbeiten – Axiom, ShiroFlex, Minato-Mindware. Aber Träume hatten keine Bedeutung, wenn du um Strom kämpfen musstest.

Samira.
Dein Name ist Samira.
Nicht „Ratte“. Nicht „Unregistriert“. Nicht „Schwarzbau-Gör“. Nur: Samira.

Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihre Hände hielt, wenn sie sich die Finger verbrannt hatte. Daran, wie ihre Schwester sie deckte, wenn sie wieder heimlich Schaltpläne unter der Decke gezeichnet hatte.

Damals hatten sie nichts gehabt. Aber jetzt war es weniger als nichts. Jetzt war es… Stille.

Nur sie. Und der Arm. Und das leise, metallene Klick-Klick-Klick der geöffneten Abdeckplatten. Sie bastelte weiter. Baute um. Verlegte Ports neu. Schliff. Lötete. Adaptierte. Sie war nicht zertifiziert. Nicht erlaubt. Nicht registriert. Aber sie war brillant.

Sie unterbrach die Arbeit, als die Innenbeleuchtung zum dritten Mal flackerte. Der Puffer war fast leer. Sie musste bald das Relais austauschen. Noch eine Nacht wie diese – und ihr Werk wäre futsch.

Samira sah auf den Arm. Nicht auf das, was er war.
Sondern auf das, was er sein konnte. Ein neues Werkzeug. Eine Chance. Oder einfach nur ein Beweis, dass sie noch existierte. Dass ihre Hände noch taten, wofür sie gemacht waren.

Und dann, ganz leise, kam die Erinnerung. Ungefragt. Unaufhaltsam. Ihre Schwester. Lachend. Mit Öl im Gesicht und Schrammen an den Knien. Die letzte Nacht, bevor die Sirenen kamen. Bevor das Feuer begann. Bevor alles endete.

Ein einziger, heißer Atemzug entkam ihrer Kehle. Kein Schluchzen. Kein Wort. Nur Stille. Und dann fiel sie. Eine Träne.
Zitternd. Schwer. Und landete auf dem kalten, neu verkabelten Metall des Arms.

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