RE:ORIGINS – Kapitel 2

RE:ORIGINS – Kapitel 2

/// Neo-Tokyo

// Ort: U-Bahnlinie 6
// Sektor: Shinjuku-West
// Datum: 11. Juni 2057
// Uhrzeit: 08:14 JST
// Verkehr: Überlastet. Gedämpfte Reklame.
// Außentemperatur: 34°C, feuchte Luft.

Die monotone Stimme des Zuges verkündete die nächste Haltestelle. Wieder mit zu viel Nachhall. Wieder mit zu wenig Bedeutung.

Ryota hob nicht einmal den Blick. Er kannte jede Haltestelle. Jede Störung. Jede Stimme, die an diesem Morgen den Aufruf wiederholen würde. Dreißig Sekunden zu früh, wie immer. Der Systempuffer war nicht auf den geänderten Takt der Linie 6 aktualisiert worden – ein Fehler, den er vor zwei Monaten bereits im Subnetz dokumentiert hatte. Niemand hatte reagiert.

Er starrte in das matte Hologramm seiner AR-Brille, das über seinen Knien schwebte. Thema der heutigen Vorlesung:

Postkatastrophale Gesellschaftsmodelle – Eine strukturtheoretische Analyse auf Basis des globalen Wiederaufbaus 2044 – 2053.

Er konnte sie bereits mitsprechen. Nicht aus Arroganz. Sondern aus Funktion. Ryota Sakamoto – genannt „Dex“ von jenen, die wussten, was er konnte – besaß ein neuronales Muster, das selten war: hyperindexierte Langzeitspeicherung, gekoppelt mit einer Art natürlichem Meta-Sorting. Er konnte Dinge abspeichern. Und wiederfinden. Nicht alles. Aber genug, um unter den Besten zu sein. Oder: unter den Letzten.

Die Welt war nicht mehr die, die sie einmal gewesen war.
2057. Der dritte Weltkrieg hatte die Erdbevölkerung auf unter vier Milliarden reduziert. Ganze Kontinente waren neu aufgeteilt worden – nicht durch Grenzen, sondern durch Verfügbarkeiten. Wasser. Strom. Arbeitskraft. Japan war verschont geblieben, größtenteils.

Aber auch dort war nichts mehr „normal“. Neo-Tokyo war ein Cluster aus vertikalen Enklaven, einer Mischung aus Rekonstruktion und Kapitulation vor der Vergangenheit. Und mittendrin: die Technische Universität Ost, wieder aufgebaut, finanziert durch internationale Syndikate.

Ryota betrat das VR-Auditorium ohne aufzublicken. Reihe 3 von hinten, zweiter Platz rechts. Immer. Er hasste es, gesehen zu werden. Nicht, weil er schüchtern war. Eher, weil er es unnötig fand.

Er startete sein Interface, nahm die Mitschrift bereits auf, bevor der Dozent das Podium betreten hatte. Sein Blick glitt über die anderen Studierenden. Avatar-gemixte Projektionen. Gesichter, die sich ständig neu erfanden. Er hatte aufgehört, sich die echten Namen zu merken. Was zählte, war der Datenoutput.

Nur einer blieb konstant. Akira.

Akira war alles, was Ryota nicht war: Offen. Charismatisch.  Leichtfüßig im sozialen Raum. Mit der Fähigkeit, sich durch jedes System zu schlängeln – solange es jemand anders für ihn rechnete.

„Yo, Ryota!“

„Denkst du, du könntest mir das heute wieder mit aufzeichnen?“

„Ich schwöre, ich geb‘ dir auch meine kompletten Tracelog-Punkte von letzter Woche.“

Ryota blickte nur kurz hoch. Er kannte das Spiel.

„Du meinst die Punkte, die du durch das Erstellen einer Fake-Analyse im Synthetik-Modul erschummelt hast?“

„Das war ein verifizierter Fehler in der Plattform, kein Betrug.“

„Du hast den Bug dokumentiert, nachdem du ihn ausgenutzt hast.“

„Ich nenne das proaktive Forschung.“

Akira grinste. Ryota seufzte. Und schickte ihm den Mitschnitt trotzdem. Er wusste, dass es einfacher war, ihm den Köder zu geben, als später in eine hitzige Diskussion gezogen zu werden.

Die Vorlesung begann. Post-War Societies, gehalten von Dr. Miyanagi – eine Koryphäe in Theorie, aber ohne praktische Anbindung. Ryota hörte ihr trotzdem gerne zu.
Vor allem, weil sie in Systemen dachte.

„Nach dem thermonuklearen Fall 2036 wurde die Frage nach Identität erstmals staatlich kodiert – nicht mehr individuell, sondern funktional.“

„Identität wurde Zweck.“

„Menschen, die keinen Beitrag leisten konnten, verschwanden aus den Netzwerken. Nicht durch Gewalt. Sondern durch statistische Unsichtbarkeit.“

Sie ließ den Satz wirken. Dann fuhr sie fort, mit ruhiger, fast resignierter Stimme:

„Diese Praxis begann nicht erst nach dem Krieg. Ihre Wurzeln reichen bis in die 2010er- und 2020er-Jahre zurück – insbesondere im europäischen Raum. Die Digitalisierung staatlicher Leistungen, gekoppelt mit Sozialkredit-Logiken und automatisierten Ausschlüssen, schuf ein neues Machtinstrument: die Unsichtbarkeit.“

„In Deutschland beispielsweise führte dies zu einer schleichenden Entwertung menschlicher Existenzen – Obdachlose, psychisch Erkrankte, Erwerbsunfähige wurden zunehmend nicht mehr verfolgt, nicht mehr gepflegt…, sondern schlicht ignoriert.“

„Bis in die 2030er gipfelte das in sozialen Unruhen, algorithmischen Ethnien und einem Wiedererstarken faschistischer Ideologien unter anderem Namen.“

Der Zeitstrahl flackerte und zeigte die Silhouette einer zerbombten Berliner Skyline. Darunter nur ein Wort: „Ökonomisch obsolet.“

„Das Resultat war eine zweite Verwüstung Europas – nicht durch fremde Mächte, sondern durch Systemversagen im Innern. Wer nicht messbar produktiv war, wurde entkoppelt. Es war nicht Hass, der sie auslöschte. Es war Gleichgültigkeit.“

Ryota notierte das Zitat. Nicht weil er es vergessen würde – sondern weil es ihn daran erinnerte, wie dünn der Grat war, zwischen Relevanz und Nullstelle. Akira lehnte sich zu ihm.

„Ich versteh das alles nicht. Funktionale Identität? Was, wenn ich einfach sexy bin?“

„Dann wärst du ein Werbebot.“

Ein leiser Lacher. Aber Akira schwieg danach. Kurz. Dann murmelte:

„Manchmal wünsch ich, ich wär einer.“

„Ein Bot?“

„Ja. Kein Stress. Keine Prüfungen. Kein Gedächtnis, das dich nachts wachhält.“

„Dafür jeden Tag ein anderes Produkt anpreisen. Ohne zu wissen, warum.“

„Klingt wie mein Studium.“

Ryota sagte nichts mehr. Aber der Satz blieb hängen.
Nicht, weil er besonders war. Sondern weil er das erste Mal war, dass Akira etwas sagte, das ehrlich klang.

Draußen, auf den Werbewänden der Universität, lief gerade eine neue Kampagne. Eine Androidin mit violetten Haaren und zu großen Ohren präsentierte ein Hautserum. Ihr Lächeln war exakt. Ihre Stimme perfekt. Ryota sah nur kurz hin.
Und dachte nicht weiter darüber nach.

Noch nicht.

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