Warnwesten-Familien

Warnwesten-Familien

Viele Menschen ergötzen sich an den Wildesten Spezimen in Deutschen oder auch internationalen Zoos. Dabei muss man nie wirklich weit laufen, um auch in unserer unmittelbaren Umgebung die merkwürdigsten und unglaublichsten Phänotypen Menschlicher Zivilisation zu sehen, ganz in freier Wildbahn und mehr oder minder artgerechter Haltung.

In meiner mehr als Alltäglichen Sucht nach Nahrungs- und Getränke-Aufnahme und sonstigem Konsum führte mich mein Weg in einen Laden, dessen phonetische Entsprechung oft und schnell hintereinander gesagt in etwa einem Klingelton entspricht. Oder, um es kurz und nicht übertrieben Fremdwort-nutzend zu sagen: Lidllidllidllidl.

Eigentlich hatte ich mal hart Bock auf neue, exotische Kartoffel-Chips in unüblichen Geschmacksrichtungen, die leider schon bald in den Fundus der Restbestände wandern sollten. Leider sind sie auch sehr lecker, so dass ein Polster außerhalb meines Bauches anzulegen unvermeidbar war.

Plötzlich und völlig unerwartet flog eine Packung feuchtes Toilettenpapier, eine in den Pandemiezeiten undenkbar wertvolle Ware, quer durch den Laden. Ich warf mich, ähnlich Keanu Reeves in Matrix in einen Halben Limbo-Tanz. Zwar flog die Packung ein paar Gänge entfernt von mir durch die Gegend, aber Ich wollt mal gucken, ob das so funktioniert. Außerdem sah das bestimmt voll Cool aus. Dennoch musste ich mich nach dem Verursacher dieser Schmuggelwaren-Schießerei umsehen.

Ich erblickte zwei Menschen, die mein Gehirn spontan Münzeinwurfsprostituierte titelte, offenbar auf der Suche nach ihrem nächsten testosteron-geschwängertem TikTok-E-boy. Klar sichtbar war, dass die Dicke des Makeups klar die Menge der Kleidung, die sie trugen bei weitem überstieg. Die kurzen Fummel überdenkend, fiel mir aber ein Tonfetzen im Hintergrund angsteinflößend auf.

Während mein Hirn an sich noch am überlegen ist, in welchem Porno ich das Gesicht der einen mal gesehen hatte und spontan dazu überging, das Gesicht nun in die Kartei „Mauszeiger bekommt Wanderherpes“ einzuheften, schallte ein

„Schakkeline-Maria! Lass das!“

quer durch den Laden. Angst und ein Fluchtinstinkt waren meine ersten Gedanken. Das Rote Boot der Kopulationsbeschleunigung, sollte es mich heimsuchen oder gar verfolgen? Musste ich mich umdrehen und meinem Schicksal ins, nun ja, Gesicht sehen? Die Informationsgier überwog allerdings, so dass ich meinem Instinkt den mittleren Finger zeigte und meinem Untergang stolzen Auges entgegenblickte.

Es war nicht die Panzermama, es war eher ein Blick ins neudeutsche Nachmittags-Privatfernsehen. Eine ganz natürliche, urdeutsche Biofamilie, mit diesem typisch entrückten Blick von zwanzig Jahren Alkoholmissbrauch.

Der vermutliche Vater, braune haare, blaue Jeans, blaues Hemd, speckige Lederjacke und Warnweste. Die Mutter stark blondiert, in blauer Jeans, weißer Bluse und Warnweste. Zwei Töchter, so circa neun und zehn, in rosa Kleidchen und… Warnwesten. Im Kopf stelle ich mir vor, wie Vater und Mutter mit ebenjenen Warnwesten über ihren kleinen Straßenflohmarkt marschieren und Kindern morgens um 9 schon 7€ Standgebühr abknöpfen, egal, wie jung diese sind.

Während der Vater sich gerade von „Schakkeline-Maria“ erwürgen ließ, äußerte die andere aufgedrehte Würgeschlange von Kind, „Dschastine-Kimberly“, den Wunsch in dem bis zum Rand gefülltem Einkaufwagen zu sitzen. Ein Wunsch, dem ohne großes Nachdenken sogar stattgegeben wurde.

Flug auf die Waren im Korb bugsiert, sammelte Mutti Warnweste den Rest des Einkaufes ein. Blondes Haarfärbemittel, noch zwei Tüten Paprika-Chips, Bräunungscreme Marke Schuhsohle und so einige andere exotische Dinge, die man offenbar jeden Tag braucht.

Eigentlich hatte ich schon alles, was ich kaufen wollte, aber ich kam nicht umhin, den gleichen Weg durch den Laden zu nehmen wie diese Extremzooologisch beobachtungswerte Familie. Mich führte diese Exposition durch noch ungeahnte Regalreihen, wo Wein gleich kartonweise in Tetrapaks unter den Wagen gestellt wurde und der Warnwestenhauptvertreter noch direkt sich drei Flaschen Apfelschnaps aus dem Regal griff, „fürs Wochenende“.

Nach viel zu viel verschwendeter Zeit, (umgerechnet ca 30 Minuten Intermenschlicher Normalzeit (IMNZ)), führte unser Weg gemeinsam an die Kasse. Mittlerweile hatte Dschastine-Kimberly die Frikadellen-Packungen entdeckt, die im Wagen vergraben waren.

Nun kinderfreundlich ausgepackt und mit Ketchup verziert, den sie selbst zur Verwunderung der wandelnden Mutter Warnweste irgendwie aufgetrieben hatte (Es tropfte Ketchup unter dem Wagen), rollten die Frikadellen aus der Packung mit allem beiliegenden Fett auf das Kassenband. Es stellte sich heraus, dass das auf dem Einkaufswagen sitzende Monstrum nicht nur weiß, wie man Frikadellen, sondern auch andere eigentlich Kindersicher verschlossene Dinge öffnet.

Während sich unter dem Einkaufswagen eine veritable Lache aus Ketchup, Weichspüler und Wasserstoffperoxid bildete, schien sich die bis jetzt eher unbeachtete Schwester von Dschastine-Kimberly, nochmal in Erinnerung zu rufen, welche Gene sie heute Morgen von der Hauskatze abgeleckt hatte. Schakkeline-Maria besann sich ihrer vollen Geistigen Fähigkeiten und fand die Idee, die Warenauslage neben der Kasse als Trampolin zu nutzen, keine ganz so schlechte Idee.

Hundekot und andere Reste außerinnerlicher Weltlichkeiten fanden ihren Weg von den Schuhen an die Ware und der stumm mit leidende Kassierer starb tausend stille Tode. Die Mutter bemerkte aber (endlich) das Treiben ihrer Lieblings-Medusa und trat sich an, das Kind zurechtzuweisen:

„Mach doch mal was Heiner! Aber sanft!“

Das wars. Der Vater bat das Kind, von der Ware zu kommen, erfolglos, dann gaben beide auf. Die Kinder tanzen ihren Eltern und der Umwelt ungestraft auf der Nase rum und werden später definitiv noch weiter in die Abgründe von Verantwortlichkeiten und Interpersonellen Anforderungen fallen. Mitten in diese Travestie menschlicher Erziehungsabgründe hörte ich Mutti Warnweste seufzen:

„Das geht garantiert wieder auf mein Grünes Basen-Chakra und mein Karma erst, herrje, ich bin heute so unbalanciert! Ich brauche wieder meinen Heilpraktiker!“

Mein Hirn versuchte spontan, mich dazu zu bewegen, ihr eine Notschlachtung wie bei einem Pferd mit einem gebrochenen Bein im Wilden Westen vorzuschlagen. Allein die bildliche Vorstellung von Gewalt gegenüber diesen Menschen befriedigte meine Mordgelüste ein wenig.

Der Kassierer brach innerlich zusammen, als er sah, dass beide Kinder nun auch auf dem Rollband sitzen und der Einkauf sich weiter aus den Packungen befreit hatte. Unkontrolliert rollten jetzt etwas staubige Frikadellen mit Bissspuren, leere Cappucinodosen und schleimige Überreste von Bräunungscreme an ihm vorbei, nur erkennbar am Dampf des verschütteten Pulvers und der Schmierspur auf dem Band. Weichspüler und Glasreiniger läuft in die Ränder und die Technik im Inneren beginnt, unschön nach Feuerchen zu riechen.

Der Kunde ist König, und unter aufmunternden (oder auch mitleidsvollen) Blicken von mir und anderen Kunden nahm er die Arbeit seines womöglich schwersten Tages an sich – eine Feuerprobe, gleich zweierlei, denn ich denke, er wird sich danach die Hände mit Salzsäure desinfizieren und Feuerversiegeln lassen haben.

Nachdem alle Ware über den Scanner gezogen, gerubbelt und gelaufen ist, berät sich die Marktleitung im Hintergrund mit dem Regionalleiter, ob man irgendwo schnell 200 Liter Desinfektionsmittel herbekommt oder man doch lieber die ganze Kasse einfach abfackeln sollte. Letztendlich dringt die Endsumme des Einkaufes aus dem Kassierer:

„Das macht dann 213 Euro und 57 Cent, bitte.“

Er schien so viel Vitriol und Verachtung in das „Bitte“ getan zu haben, doch es kam nie im verwesten Denkzentrum an. Noch während er die Summe nannte, drückte ihm die dürre Lederjacke namens „Heiner“ einen 500€-Schein in die Hand. Ein aufgeregter Schrei entfuhr der Mutti dazu, denn…

„Das Kleingeld hab‘ ich passend!“

Ihren Damenrucksack, der so aussah, als ob ein Marienkäfer aus seinem Panzer herausplatzt, absetzend, zog sie eine Granini-Flasche mit ein, zwei und fünf-cent Münzen heraus. Oh nein. Viele Neins.

Nicht nur, dass sie anfing, das Kleingeld abzuzählen, was ja ganz okay gewesen wäre, nein, sie kippte die gesamte Flasche Kleingeld auf den Tresen des Verkäufers. Hunderte, wenn nicht sogar tausende kleiner Kupfermünzen ergossen sich auf den Scanner, das Endstück und sogar in den Schoss des nun sehr angefressenen Kassierers.

Langsam zu zählen beginnend und viel Kupfergeld aufsammelnd, machte sich Mutti Warnweste nun daran, exakt 13 Euro und 57 Cent vor dem Kassierer aufzustapeln. Ein Vorhaben, das eventuell Stunden dauern könnte, denn der Kassierer dirigierte uns mit vielen entschuldigenden Blicken an eine andere Kasse.

Ich ließ mir Zeit und gab einer Gruppe Senioren den Vortritt, ich musste diesen Zwischenmenschlichen Unfall dokumentieren. Die Mutter zählte, der Verkäufer zog die Viabilität eines Rituellen Fremd-Selbstmords in Erwägung und dann kam plötzlich Bewegung in die Sache.

Mit einer unerwartet schnellen Bewegung zog Mutti den 500€-Schein aus der Hand des Verkäufers, steckte sich den Schein in den BH und sprach:

„Wir zahlen doch lieber mit Karte. Anscheinend wollen sie mir nicht helfen, die paar Münzen zu zählen!“

Sie zog ihre Karte und

  • steckte sie in den Scanner noch bevor der Kassierer überhaupt das Okay geben konnte, zog sie wieder heraus,
  • wartete auf das Okay, steckte sie wieder hinein, drückte bestätigen, ohne den PIN einzugeben, zog sie wieder hinaus,
  • steckte sie erneut hinein, gab die PIN ein, zog die Karte hinaus, ohne zu bestätigen
  • steckte die Karte falsch herum ein und beschwerte sich, dass sie plötzlich leer sei
  • wendete die Karte, gab den PIN Falsch ein, und brach die Transaktion ab,
  • steckte die Karte rein, gab den PIN richtig ein, drückte okay und…

ENDLICH war die Tortur beendet. Die Kasse spuckte einen Meter Druckerpapier aus und Mutti riss diesen selbstständig aus dem Bereich des Kassierers.

Bargeldlos zahlen ist übrigens keine Wohltat bei solchen Menschen.

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