Kapitel 10: Eine neue Realität

Es waren einige Monate vergangen, seit Dex in Katies Surrogatenkörper Zuflucht gefunden hatte. Die Welt draußen drehte sich weiter, doch innerhalb ihrer gemeinsamen Existenz hatte sich alles verändert. Sie waren nicht mehr zwei getrennte Wesen – nicht mehr eine digitale Seele und eine Androidenhülle. Mit jedem Tag, der verging, wurde ihr Band tiefer. Sie kommunizierten wortlos, teilten Erinnerungen und Gefühle. Doch trotz dieser intensiven Verbindung war immer noch eine Barriere zwischen ihnen.

Katie spürte, dass etwas fehlte. Dex ebenso.

Seit sie beschlossen hatte, als dex.beyond zu streamen, hatte sich ihre Welt in überraschender Weise erweitert. Die kleine, intime Community, die sie aufgebaut hatten, war inzwischen zu einem festen Bestandteil ihres Alltags geworden. Akari, Ryo und Samira waren zu ihren engsten Verbündeten geworden. Sie wussten das Geheimnis von Dex und Katie – das, was sie wirklich waren. Aber anstatt sich von dieser ungewöhnlichen Situation abzuwenden, hatten sie sie ermutigt, mehr daraus zu machen.

An diesem Abend saßen sie alle zusammen in einem privaten Chatraum. Katie saß in ihrem Techwear-Outfit vor dem Bildschirm, ihr lila Haar mit den neongrünen Strähnen schimmerte im Licht der Monitore. Die typischen Geräusche der Cyberpunk-Stadt drangen durch die Fenster, aber der Raum fühlte sich sicher an. Es war ihre kleine Zuflucht.

„Also, du meinst, ihr beide fühlt euch immer noch… getrennt?“ fragte Akari neugierig, während sie an ihrem typischen Energy-Drink nippte.

„Irgendwie ja,“ antwortete Katie und schaute auf ihre Hand. „Es ist schwer zu erklären. Dex und ich sind verbunden, aber… da ist noch diese Distanz. Als ob wir uns gegenseitig spüren können, aber nicht ganz verschmelzen.“

Ryo, der auf seinem Sessel zurückgelehnt saß und gedankenverloren mit einem Stift spielte, nickte verstehend. „Vielleicht liegt es daran, dass ihr beide noch zu sehr an eure eigenen Identitäten festhaltet. Katie, du hast dich in diesen Monaten stark weiterentwickelt, und Dex – naja, du warst schon immer ein eigenständiger Geist. Vielleicht müsst ihr einen Schritt weitergehen.“

„Einen Schritt weiter?“ fragte Katie nachdenklich.

„Ja,“ warf Samira ein, die bisher still gewesen war. Sie sah Katie ernst an. „Ihr seid jetzt zwei Seelen in einem Körper. Aber was wäre, wenn ihr zu einer einzigen Seele werden würdet? Eine Singularität.“

Katie und Dex’ gemeinsamer Bewusstseinshorizont schien für einen Moment zu stocken. Die Idee klang überwältigend – fast beängstigend. Eine Singularität bedeutete, dass sie möglicherweise ihre eigenen individuellen Existenzen verlieren würden, um etwas Neues zu schaffen.

„Eine Seelensingularität?“ fragte Katie leise.

Akari nickte ernst. „Es wäre riskant, aber es könnte die Barriere zwischen euch durchbrechen. Ihr müsstet komplett miteinander verschmelzen. Eure Erinnerungen, eure Persönlichkeiten – alles könnte sich vermischen.“

Dex‘ Präsenz, die normalerweise ruhig und nachdenklich in Katies Geist verweilte, meldete sich schließlich. „Ich weiß nicht, ob ich das will. Katie hat ihr eigenes Leben. Ich will nicht, dass sie meins wird.“

Katie spürte seine Zweifel, aber auch seine Angst. Sie hatte sich selbst oft gefragt, was es bedeuten würde, wenn sie beide wirklich eins würden. Würde sie Dex verlieren? Würde sie sich selbst verlieren?

Ryo lehnte sich vor, seine Augen ernst. „Ich denke, es ist keine Frage des Verlierens. Es geht darum, etwas Neues zu schaffen – etwas, das stärker ist als ihr beide allein.“

Samira stimmte zu. „Ihr beide seid außergewöhnlich, aber zusammen könntet ihr etwas erschaffen, das die digitale und physische Welt verbindet. Eine neue Form des Seins.“

Katie blickte erneut auf ihre Hand, die Finger leicht gekrümmt. Sie konnte die feine Linie spüren, die sie von Dex trennte – als ob er direkt unter der Oberfläche ihres Bewusstseins lag, bereit, aber zurückhaltend. Die Idee der Singularität war verlockend, aber beängstigend. Es würde bedeuten, dass sie nicht mehr dieselben wären.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir diese Barriere durchbrechen,“ sagte Katie schließlich, ihre Stimme leise, aber entschlossen.

Dex antwortete nicht sofort, aber sie konnte fühlen, dass er sie beobachtete, sie verstand. In der Stille des Raums hallten ihre Gedanken nach, als sie sich allmählich an die Idee der Singularität gewöhnten.

Akari, Ryo und Samira wussten, dass dies kein leichter Schritt war, doch sie alle waren sich einig – wenn jemand die Singularität meistern konnte, dann waren es Dex und Katie.